Martina Fontanive gibt den Rücktritt aus dem Bobsport

Martina Fontanive gibt den Rücktritt aus dem Bobsport

Ich habe alle meine Energie in den Bobsport investiert. Jetzt ist der richtige Zeitpunkt für einen neuen Lebensabschnitt.

Wenn ich auf die letzten 10 Jahre zurückblicke, bin ich unglaublich stolz auf meine Entwicklung und das Erreichte. Im August 2012 wurde ich bei einem Weitsprung-Event angefragt, ob ich Bob-Anschieberin werden möchte. Am nächsten Tag habe ich zugesagt und zwar gleich für die ganze Saison. Das Gefühl, als Anschieberin und als Pilotin die Bobbahn hinunterzusausen, hat mich vom ersten Meter an fasziniert. Das Bobfahren sowie das Athletiktraining, die Menschen – es war für mich einfach, den Bobsport zu lieben.

Der Entscheid, selber Pilotin zu werden fiel bereits nach den ersten paar Monaten. Ich bin neugierig, mag Herausforderungen und übernehme gerne Verantwortung. So absolvierte ich im Februar 2013 meine ersten Zweierbob-Fahrten in St. Moritz. Der Adrenalinschub, wenn ich zum allerersten Mal eine Bobbahn „bezwinge“, ist unbezahlbar.

In meiner Karriere habe ich meinen Durchhaltewillen, meine Geduld, meine Disziplin und meine Opferbereitschaft ausgereizt. Es gehört zu den Aufgaben einer Pilotin, Anschieberinnen zu suchen und das eigene Team zu managen. Eine riesige Belastung ist das kostspielige Material, denn nur mit weiterentwickeltem Bob und Kufen bin ich konkurrenzfähig. Sehr geholfen hat mir unter anderem die finanzielle Unterstützung der Sporthilfe in den vergangenen drei Jahren. Während all den Jahren habe ich im Sommer als Innenarchitektin gearbeitet, abends trainiert und mich nebenher um Kontakte und die Finanzierung der Bobsaison bemüht. So konnte ich mich im Winter voll und ganz auf den Sport konzentrieren.

 

Unzählige Sponsoren und Gönner stehen seit vielen Jahren hinter dem Fontanive Bobteam. Einige haben meine Karriere von Beginn weg begleitet. Medizinische Spezialisten halfen mir mit eigenen Behandlungsmethoden, so dass ich meine Probleme und Fehlstellungen beheben konnte. Detailversessene Trainer haben mich in allen Bereichen weitergebracht und mir neue Möglichkeiten aufgezeigt. Nie hätte ich mir vorstellen können, dass ich mal über Hürden auf Brusthöhe springen, mit 210kg Kniebeuge oder mit 130kg Ausfallschritte machen werde. Allen voran Christoph Langen hat mir seit 2016 immer wieder aufgezeigt, wozu mein Körper und mein Geist fähig sind.

 

Bereits zu Beginn meiner Karriere hatte ich das Glück, mutige Anschieberinnen an meiner Seite zu haben, die mir ihr Vertrauen schenkten, als ich die Bahnen dieser Welt kennenlernte. Zusammen verbrachten wir viele Stunden im Auto, philosophierten und erzählten uns persönliche Geschichten. Wir teilten uns das Hotelzimmer und die Schleifarbeit der Kufen. In den ersten Jahren als Pilotin schaffte ich es leider nicht, langfristig ein starkes und schnelles Team aufzubauen. Entweder lag es an der beruflichen Situation, an den körperlichen Möglichkeiten, am Ehrgeiz oder am fehlenden Commitment für das Fontanive Bobteam. Wie wichtig neben Talent die gegenseitige Sympathie für den Erfolg ist, erkannte ich immer wieder, wenn ich diesen Teamgeist erleben durfte. Ich habe einige hilfsbereite, wunderbare Frauen kennengelernt, mit denen mich eine Freundschaft verbindet.

Schliesslich überwiegen für mich die schönen Erinnerungen. Ich durfte unvergessliche Momente erleben und viele persönliche Erfolge feiern. Ich habe bewiesen, dass ich auch unter schwierigen Bedingungen meine Leistung erbringen kann. 2018 erreichten wir in St. Moritz überraschend den 5. Rang im Weltcup. Dank diesem Resultat haben wir bewiesen, dass wir den Anschluss an die erweiterte Weltspitze geschafft hatten! 2019 sind wir in Lake Placid gleich zweimal unter die Top 6 gefahren. 2020 rasten wir mit dem 4. Rang wiederum sehr knapp an unserem ersten Weltcup-Podest vorbei. 2021 war es endlich soweit: Im Monobob fuhr ich hinter den Weltmeisterinnen Kaillie Humphries und Laura Nolte auf den 3. Rang. Ich bin die erste und bisher einzige Schweizerin mit einem Monobob-Podest im Weltcup. Ich bin stolz auf meine fünf WM-Teilnahmen und qualifizierte mich 2022 für die Olympischen Winterspiele. Ich habe genau 50 Weltcup-Rennen absolviert und sowohl Europacup-Siege wie Schweizermeister-Titel im Zweierbob und Monobob errungen.

 

Bob ist ein Teamsport, gemeinsame Freude ist doppelte Freude. Welche Ironie, dass ich meinen einzigen Weltcup-Podestplatz in der neu gegründeten Disziplin Monobob feierte! Die Saison 2020/21 war nicht nur wegen diesem Erfolg sehr einschneidend für mich. In dem Jahr erkannte ich durch viele Situationen meinen Stellenwert bei Swiss Sliding. Bis dahin war ich dem Verband überaus dankbar für den professionellen und ehrlichen Rückhalt. Je länger je mehr spürte ich Vorbehalte und fühlte mich in eine „Schublade“ gezwängt. Ich vermisste das Vertrauen und den Support von einzelnen Trainern und Verbandsmitgliedern. Der Tiefpunkt war für mich die Nicht-Selektion für die Monobob-Weltcuprennen im Januar 2023. Obwohl ich alle Vorgaben für eine Teilnahme erfüllte, beharrte der Verband auf teils unkorrekten und für mich nicht nachvollziehbaren Argumenten. In dieser Situation war der Zürcher Bobclub eine wichtige Stütze für mich.

Ich habe alle meine Energie in den geliebten Bobsport investiert. Jetzt ist der richtige Zeitpunkt für einen neuen Lebensabschnitt, es erwarten mich neue Herausforderungen. In den kommenden Jahren liegt mein Fokus auf meiner beruflichen Karriere als Innenarchitektin, Architektin und Bauleiterin. Die Kälte wird mir nicht fehlen. Vermissen werde ich die Rennen gegen meine Konkurrentinnen, die vielen Emotionen und all die wunderbaren Menschen, denen ich in den letzten Jahren begegnen durfte! Für eine internationale Meisterschaftsmedaille hat es mir leider nicht gereicht. Wertvoll sind für mich die unzähligen einzigartigen Erfahrungen. Ich bin glücklich, dass ich gesund und mit einer persönlich erfolgreichen Heim-WM und zwei SM-Titeln zurücktreten kann.

Martina Fontanive > Fontanive Bobteam

  • Olympia-Teilnehmerin
  • 5-fache WM-Teilnehmerin
  • 50 Weltcup-Rennen (inkl. Monobob World Series)
  • 1 Weltcup-Podestplatz (inkl. Monobob World Series)
  • Europacup-Siege im Zweierbob und Monobob
  • Mehrfache Schweizer Meisterin im Zweierbob und Monobob

Von Herzen bedanken möchte ich mich bei meiner lieben Familie, meinen verständnisvollen Freunden, meinen motivierten Anschieberinnen, den unterhaltsamen Schweizer Teamkolleg*innen, den loyalen Trainern und Verbandsmitgliedern, Mechanikern, Physiotherapeuten, Masseuren, Ärzten, Mentalcoaches, meinem Bob- und Leichtathletikclub, Swiss Olympic und der Sporthilfe sowie meinen treuen Sponsoren und Gönnern, überhaupt bei allen Menschen, die mich auf jede erdenkliche Weise unterstützt haben, hinter mir gestanden sind und meine Erfolge möglich gemacht haben! Ich bin dankbar für alle, die in den vergangenen 10 Jahren den starken und schnellen Frauen des Fontanive Bobteams die Daumen gedrückt haben.

 

Danke für das Interesse und fürs Lesen meiner Berichte!

Bis bald,

Martina Fontanive > Fontanive Bobteam

 

Auf dem Foto: Martina Fontanive in Action
Bildquelle: IBSF / Viesturs Lacis
Text: Martina Fontanive